/ Von „Die Memoiren von Anna Wieland“/
Es ist der 29. Februar. Das Zimmer wo ich seit Jahrzehnten geschlafen habe, ist dunkel. Trotzdem ich kann die Konturen des alten Möbels sehen. An der rechten Wand steht unerschütterlich der kastanienbraune Schrank, der von dem Eisenzahn der Zeit und vom Holzwurm fast zerkaut wurde. Wenn ich seine Tür öffnete, fliegen oft Motten aus. Sie kommen wie merkwürdige Schauspieler eines Theaters durch das Klatschen meiner zitternden Hände hervor. Ich habe immer weniger Glück sie zu fangen.
An der westlichen Wand des Zimmers hängen die Bilder von unserer Familie. Das erste Bild ist von meiner Eltern. Die liebe Mutti mit ihren traurigen Augen und mein Vater, den ich als kleines Mädchen so sehr geliebt habe. Ich erinnere mich an die Weihnachten, als ich meinen Schnuller – Dudi – dem Nicolaus gegeben habe. Als ich 14 wurde die Mutti hat Dudi von ihrer Schublade hervorgenommen und gesagt: „Ich konnte deinen Schnuller nicht ausschmeißen. Ich war so stolz auf dich.“
Das zweite Bild ist von meinem Bruder, Thomas. Er hat mich als Kind viel geärgert. Einmal hat Vati ihm eine Schüssel voll von Erdbeeren gegeben und gesagt: „Gebe auch deine Schwester!“ Als ich in die Schüssel geguckt habe, war nur eine Erdbeere drin. Er zuckte seine Schulter. „Ich habe doch eine Erdbeere gelassen.“
Das nächste Bild ist ein Heiratsphoto von meinem Mann, Herbert, und von mir. Manchmal lache ich minutenlang über die komischen Frisuren, welche wir damals getragen haben. Wir waren dreißig Jahren verheiratet. Herbert ist seit zwei Jahren gestorben. Wenn er weggegangen ist, ist auch ein großes Teil von meinem Herz abgebrochen. Ich vermisse ihn so sehr.
Auf den nächsten Bildern sind die Kinder, Lisa mit ihren lockigen Haaren und der ernsthafte Richard. Als Richard von Fünfkirchen Bauingenieur geworden ist, war ich die stolzte Mutter der Welt. Und die kleine Lisa. Sie ist so schnell groß geworden. Jetzt ist sie schon Mutter von zwei Kindern und sie will noch mindestens zwei haben.
Die Strahlen der aufgehenden Sonne beleuchten die letzten Photos der Enkelkinder. Seltsam, ich sehe meinen Schatten nicht. Ich wende zurück zum Fenster. Es ist voll von Eisblumen. Seit Tagen habe ich keine Heizung Zuhause. Die kleine Rente genügt nicht um Holz zu kaufen. Die Kinder kommen oft, sie helfen mir sehr viel, und wenn sie fragen, ob ich genug Geld habe, sage ich immer ja. Es ist peinlich um Geld zu bitten.
Obwohl sehr kalt ist, ich friere nicht. Plötzlich ich sehe mich in dem Bett liegen. Mein Gesicht ist voll von Falten. Als ich 28 war, ich habe in die Spiegel reingeguckt und mich gefragt: “ Wie werde ich als achtzig aussehen?“ So. Meine grauen Haare liegen zerzaust auf dem Kissen. Wenn ich könnte, würde ich mich kämmen.
Der durchsichtige Faden, der den Körper und die Seele zusammenbindet, zerfasert sich. „Auf Wiedersehen, Anna!“
Und die letzte große Reise beginnt. Ich schwebe schon. Erstmal sehe ich mich, dann das Haus, das Dorf, das Land, die Welt, die Erde, die Sterne, das Universum. Ich fühle das warme, weiße Licht. Ich werde schon erwartet von Mutter, vom Vater, Thomas und Herbert.
Meine liebe Familie, ich, Anna Wieland, werde für immer und ewig in euren Gedanken bleiben.
(Fünfkirchen-Vasas, den 14. Februar 2008)