Lyrik und Prosa



P: Tödliche Therapie

Andrea Czövek (Mab Tee)
Tödliche Therapie

Er war nervös. Seine Patientin, Frau Ute Wilhelm, fühlte sich sehr unwohl. Dr. Mark Wachmann kratzte unruhig seinen Kopf, doch am vorigen Tag waren alle Ergebnisse in Ordnung. Er blätterte umsichtig die Akte von Frau Wilhelm durch, trotzdem fand er gar kein darauf andeutendes Zeichen, ob er irgendetwas außer Acht gelassen hätte.
Der Zustand der Kranken verschlimmerte sich rasch. Plötzlich bekam Frau Wilhelm Herzinfarkt. Schnell rannte er in das Krankenzimmer seiner Patientin, wo schon mehrere Krankenschwestern und Dr. Rudolf Zorn, sein Stellvertreter standen. Eine halbe Stunde lang versuchten sie die alte Frau zu reanimieren, aber es gelang nicht, denn ihre Organe, eines nach dem anderen, kamen zum Stillstand.
Eine Stunde später saß Dr. Wachmann in seinem Büro. Auf dem Tisch stand ein Glas voll Cola, und als Dr. Zorn ins Büro tritt, schien es so, dass der Doktor die Colabläschen zählt.
„Du trinkst immer noch diesen Müll?“
„Rudi, lass mich in Ruhe! Heute hab‘ ich schon genug.“
„Wie viel Cola hast du getrunken?“
„Es ist egal. Ich habe keine Frau, keine Freundin, nicht mal eine Familie. Ich rauche und trinke nicht. Mir bleibt die Arbeit und die Cola. Etwas Sünde muss ich doch haben!“
„Gestern habe ich dir Linda gezeigt. Sie ist…“
„Linda interessiert mich am wenigsten! Ich will jetzt herausfinden, warum meine Patienten sterben, ohne dafür einen Grund zu haben!“
„Frau Ute Wilhelm war alt, und hatte Leberkrebs im vorgeschrittenen Stadium. Was hast du gedacht?“
„Ihre Ergebnisse waren sehr gut, nachdem ich die Naniten eingegeben habe. Nach fünf Tagen sind die Krebszellen fast verschwunden, wir brauchten gar keine herkömmlichen Therapien! Und schlagartig stirbt sie.“
„Vielleicht gibt es eine Altersgrenze bei den Naniten.“
„Und was ist mit Frau Dora Lichtenstein? Sie war doch erst zwanzig!“
„Aber sie hatte Aids. Du kannst nicht wissen, was für eine Immunreaktion es auf die Naniten geben wird. Aidskranke haben ein schwaches Immunsystem, sie vertragen fremde Stoffe schwer. Es könnte auch sein, dass es sich um eine allergische Reaktion handelt.“
„Wir haben zehn Menschen getötet!“
„Erstens, alle waren sehr krank und sie wussten, dass sie nur eine Chance haben: die Naniten. Zweitens, du hast vielleicht die anderen neunzig Leute gerettet.“
„Vielleicht…“
„Ich gehe jetzt essen. Kommst du mit?“
„Nein, Rudi. Geh allein!“
Die Forschung der Nanobots fing schon vor zehn Jahren an. Damals dachten mehrere Laien, die Healthy Laboratories Company verschwendet nur viel Geld. Aber vor zwei Jahren kam der Durchbruch. Winzige Roboter heilten die Sehnerven von Hamstern so, dass die Tiere ihr Sehen zurückgewannen. Dann gelang es auch, Tumore in Mäusen zu vernichten. Als man herausfand, wie man Naniten leicht nach der Sorte der Krankheiten programmieren kann, war die Freude riesengroß. Vor einem halben Jahr wählten Dr. Wachmann und Dr. Zorn hundert Schwerkranke, unter ihnen an Aids-, Krebs- und Lupuserkrankungen leidende Menschen, für Patiententests aus. Der Erfolg blieb nicht aus. Millionen von Nanorobotern patrouillierten durch die Blutbahn der Kranken auf der Suche nach Krebszellen oder HIV-Viren und zerstörten sie. Aber der Wahnsinn begann vor einem Monat. Einige Testpatienten fingen an zu sterben, ohne jegliche voraussehbare Zeichen.
Mark wusste, wenn es sich herausstellt, dass die Tests fehlgegangen sind, werden sofort kritische Artikel erscheinen. Die Versicherungsgesellschaften hatten schon früher geäußert, dass die Nanopartikel eigenartige biologische Reaktionen hervorrufen und viel toxischer sein können, als größere Partikel derselben Chemikalien. Das könnte das Ende der Forschung sein. Der Kopf des Doktors pochte. Fieberhaft suchte er nach der Lösung, aber sie verdunkelte sich. Eine Etage tiefer war sein Laboratorium. Er ging runter, um die Dokumentation zu überprüfen.
‘Schauen wir mal an, was wir bisher wissen und haben‘, sagte er.
Spätabend arbeitete niemand im Labor. So konnte er ruhig laut nachdenken und inzwischen auf und ab gehen.
‘Also, jetzt haben wir drei Gruppen der Naniten. Die erste ans Ziel führende Gruppe sichert die Erkennung und die Anbindung der Zielzellen. Diese verwenden wir meistens bei Krebs und Aids. Die zweiten sind die Wirkstoffe, und die dritten sind die Zeichengeber, die den Veränderungen im Körper nachfolgen. Diese sind sehr nützlich beim Lupus. Eigentlich ist die Struktur der Nanoroboter gleich, aber der Unterschied liegt bei ihrer Programmierung. Frau Ute Wilhelm hat Krebs gehabt, Frau Dora Lichtenstein ist an Aids erkrankt gewesen, und was ist mit den anderen acht Patienten?‘
Er saß vor seinem Computer und lud die Akten herunter.
‘Alle haben Krebs oder Aids gehabt. Alle haben Herzinfarkt bekommen. Das macht keinen Sinn! Nach den Vermutungen wären die Nebenwirkungen die gleichen, wie bei Vulkanausbrüchen. Die kleinen Nanopartikel würden tief in die Lungen und das Hirn gelangen, und dort Entzündungen auslösen. Aber die Chance, erstmals Herzinfarkt zu bekommen ist fast Null! Wenn ich Verfolgungswahn hätte, würde ich jetzt sagen, die Naniten haben die Menschen getötet. Aber die Naniten können nicht denken, sie haben weder künstliche Intelligenz, noch Willen. Sie verfolgen ihr Programm. Vielleicht liegt der Fehler in dem Program?‘
Der Quellcode des Programms war mehr als tausend Seiten lang. Er wusste, er kann jahrelang nach dem Fehler suchen, aber es gibt keine Garantie darauf, dass er ihn auch finden würde. Plötzlich fiel ihm eine Idee ein. Er fragte die Liste der Programmveränderungen ab bis vor zwei Monaten. Nach einer Stunde starrte er den Monitor an, und suchte blind nach seinem Mobil.
„Hallo, Rudi, du sollst sofort ins Laboratorium kommen. Was? Du bist schon zu Hause? Es ist dringend, Rudi. Ich weiß, warum die Testpatienten sterben.“
Nach dreißig Minuten tritt Dr. Zorn ins Labor.
„Was hast du gefunden?“
„Jemand hat den Programmcode so verändert, dass die Naniten bei den Patienten, deren Blutfaktor Rh negativ ist, zum Herz wandern, und Herzinfarkt verursachen. Das ist Sabotage, Rudi!“
Plötzlich fühlte Dr. Wachmann einen Stich. In der Hand seines Stellvertreters sah er eine Spritze.
„Was…was machst du da?“
„Es tut mir leid, Mark! Mit den Nanobots sind Krebs und Aids nur eine Erkältung. Die Menschen werden keine Medikamente mehr kaufen. Einige Pharmaunternehmen werden zugrunde gehen, weil sie keinen Einkommen mehr haben werden. Das können wir nicht zulassen.“
„Warum…Rudi?“
„Ich habe keine andere Wahl. Du bist zu weit gekommen. In der Spritze waren spezielle Naniten, die durch deine Blutbahn in deinem Gehirn landen, und dort mehrere Strokes erzeugen und danach resorbieren sie sich. Hab‘ keine Angst! Es wird nicht lange dauern. Bald wirst du dich schwach fühlen, dann wirst du in Ohnmacht fallen und sterben. Inzwischen kann ich die Beweise verwischen. Ich habe noch eine gute Nachricht für dich: du bist der Erste, an dem ich meine neue biologische Waffe ausprobiere. Gute Nacht, Mark!“
Es kamen keine Worte mehr aus dem Mund des Doktors. Als Letztes sah er Dr. Zorns teuflisches Lächeln.